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Tempelhof, Tarif E, Prenzlauer Berg



Zwei Tassen auf einem Esstisch. Für Sekunden konnte er sie sehen, kurz bevor die Propellermaschine in Tempelhof aufsetzte. Berlin. Ankunft. Niemand fragte nach einem Ausweis. Gepäck hatte er kaum, Wäsche für ein paar Tage, seine Lieblingskerzen, eine Flasche Rotwein. Die Luft vor dem Flughafengebäude war frisch. Durchatmen. Kein Taxi, nicht erklären müssen, wohin man will. Die Fahrkarte druckte ein Automat. Tempelhof, Sonntag, 19. April, 14.38h, Tarif E, Ziel Prenzlauer Berg, 1 Euro 20. Der Bus folgte seinem Plan, fuhr ungestoert seine Wege. Die Strassen waren leer, hell und fremd an diesem Sonntag. Gelegentlich blitzte Frühlingsgrün aus einem Hinterhofgarten. Ein Fahrgast, der, der an der letzten Haltestelle zugestiegen war, kam näher. Setzte sich dann zum Glueck aber doch drei Reihen vor ihn. Schweigen. Nur schweigen. Seine Worte durften nicht verschwendet werden. Die wenigen Sätze, die er in den letzten Tagen gebildet, sortiert, verfeinert, poliert und dann doch wieder verworfen hatte, sollten nicht durcheinander kommen. Die Inhalte waren zu flüchtig, ihr Gleichgewicht zu fragil. Wo anknüpfen, wenn man sich 10 Jahre nicht gesprochen hat? „Wenn Du Deinen Mann nicht verlassen kannst, macht es keinen Sinn, dass wir uns weiterhin sehen“ war das letzte, was er ihr damals gesagt hatte. Erinnerung. Ihr letzter gemeinsamer Abend. Gespräche, Rotwein, Kerzen, das Gefühl, sich und die Welt zu verstehen. Trotz allem. Berlin. Jetzt wohnte er in Paris. Inszenierte sein Leben. Anfang fünfzig, erfolgreich, eloquent. Einsam. Er sah sie nie wieder, wollte, konnte nicht. Ihre Bücher las er nicht, obwohl er sie in der Deutschen Buchhandlung am Centre Pompidou immer wieder in den Händen hielt, ihr Parfum roch. Das Umschlagfoto ihres letzten Taschenbuches zeigte, dass auch sie älter wurde. Ein paar graue Haare waren aufgetaucht, standen ihr aber gut. Frankas Augen waren jung wie eh. Schön war sie, immer noch. Er schmunzelte, nie wollte sie sich fotografieren lassen. Der Bus ruckelte, als er über die alte Spreebrücke fuhr, die Sonne spiegelte sich auf dem Wasser. Er schloss die Augen. Dann das Bild in „Le Monde“. Die Überschrift, die ihn erschreckt hatte. „Die Bundesrepublik Deutschland gedenkt der jüngst gefallenen Soldaten im Kosovo“. Bericht einer Trauerfeier. In Berlin. Schwarz/weiße Aufnahme. Franka saß vorne neben dem Verteidigungsminister. Dunkelgraues Kostüm, schwerer schwarzer Schal. Ihr Hände wirkten verloren. Frankas Mann, Oberleutnant von Kirchhoff hatte das Kommando über den Einsatz gehabt. Von Kirchhoff war eines der 37 Opfer. Er kannte ihre aktuelle Adresse nicht, über ihren Verlag hatte er ihr einen Brief zukommen lassen. „Tut mir unendlich leid. Konstantin“. Dann war ihre Antwort gekommen. Er hatte es sofort gesehen, nur Franka schrieb seinen Namen so. Ein offenes „K“, dann jeder Buchstabe in gleicher Neigung miteinander verbunden. Er fasste in die Innentasche seiner Jacke, zog behutsam den Brief hervor. Zum wiederholten Male. Das Papier war weich geworden, wie Haut vom streicheln. „Bin ab 19. April zurück in Berlin. Alte Wohnung. Bitte komm.“


 

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GODESS



Rauch umschwebt die matte Beleuchtung, rosa Lampenschirme so kitschig wie dieser übersüßte Lifestylecocktail vor mir. Dabei mag ich dieses süße Zeug gar nicht, nicht richtig aufgepasst eben. „You don´t look like living here. Want to try our welcome drink?“ – „Why not ...“ Weitergehen? Ne, keine Lust, schon wieder umherzuirren. Woanders wird es sicher auch nicht besser sein. Fremde Städte eben, das Alltägliche so austauschbar wie überall. Nur man selbst bleibt immer gleich, egal in welchem Teil der Welt man sich gerade befindet. Dachte ich mit jedenfalls vorhin, als ich mich frisch gemacht habe. Krawatte ab, Jeans an. Terminkalender übervoll, den lächelnd im Zimmer gelassen. Brauch ich jetzt nicht. Selbst meinen Ausweis habe ich nicht dabei. Raus aus dem Hotel, raus aus dem Ganzen. Eine Kneipe finden, in der Nähe, so dass ich mich auf dem Rückweg nicht verlaufen kann. Einfach was trinken gehen. Nichts außergewöhnliches eben. So wie dieser Cocktail, den ich unberührt vor mir stehen lasse. Platzen könnte ich. Vor Wut. Mein Chef, dieser visionslose Erbsenzähler. Keine Ahnung hat er, und von Personalführung das einzige Mal wohl nur beim Einstellungsgespräch gehört. Despot. Und so was nennt sich Direktor. Ha! Zum Glück ist der nicht auch noch mitgekommen. Whisky will ich, wenn ich nachdenke. Das Reine, Pure, Scharfe in mir spüren, nichts vermilchtes, dekoriertes. Die Flüssigkeit unangestrengt in mich laufen lassen, passiv irgendwie, nicht durch einen grellen, gewundenen Halm gurgelnd durchziehen müssen. Mein Gesicht jetzt höchstens ermüdet, aber nicht auch noch lächerlich saugend vorzeigen müssen. Diesen geleckten Typ von eben bin ich endlich los, biedert sich bestimmt einem anderen Gast an. Was dozierte der noch mal? Aktienindizes? Weltpolitik? Glaubensfragen? An seine Augen kann ich mich nicht einmal mehr erinnern, so unbedeutend waren sie, transparent, ohne Inhalt, leer. NASDAQ, Jihad oder Papst? Interessante Themen, aber so wie der darüber dachte, selbstgefällig, ohne jeden Zweifel und Neugier, vergeudete Zeit nur, Sätze ohne Bedeutung. Dann lieber alleine sitzen bleiben, inmitten dieser sich füllenden Bar. Feierabend. Hier wurde 9 Stunden gearbeitet, ich bin seit 18 unterwegs. Auch Arbeit, das reisen. Die Musik vom Computer, Jukeboxen gibt es im Silicon-Valley wohl schon lange nicht mehr. High-Tech eben, Firlefanz. Wie dieser Cocktail. Blutleeres Gesäusel aus Ambient-Surround-Multichannel-Boxen. Einen Whisky will ich. Ohne Eis. Und Musik, richtige Musik. Pur. „How are you doing?“ Diese Frau neben mir. Plötzlich. Blond. Lange Haare. Lange Beine, die sich um den Barhocker schlingen, als wären sie dort zu hause. Rosa T-Shirt, eine Kleidergröße zu eng. Lila Buchstaben, aufgenäht. „GODESS“. Das D liegt im Schatten ihrer Brüste. Weiche Stimme, die zu ihrem Mund passt. Schlanke Finger, Naegel, im gleichen Look. Ihr Blick hat nichts von Papst. „Trinken Sie einen Whisky mit mir?“ „Oh. Vielen Dank. Nein. Danke. Lieber einen Cocktail“ „Nehmen Sie doch den hier, der ist frisch und nicht berührt worden, seit der Barmann ihn hier abgestellt hat. Begrüßungsdrink“ „Ja, ich weiß“ Der Computer spielt Elektropop. Die Sicht ist trotz des Rauchs klar, geruchsneutral. Kunstluft. Aircondition. Sie lächelt. Amerikanisch. „Sie sind nicht von hier“ Nein, ich bin ganz und gar nicht von hier. Zum Glück. Ob ich jetzt lieber weg als bleiben will? Keine Ahnung, ist im Moment ohnehin egal, wo ich bin, selbst wer ich bin, spielt kaum eine Rolle. Scheiß Firma. Scheiß Chef, Scheiß Globalisierung. Wenigstens mal weg aus dem Büro. Dienstreise. Oder doch eher Flucht? „Nur auf Durchreise.“ „So? Was machen Sie denn?“ Gleichgültig, welcher Film im Büro gespielt wird, es ist auf jeden Fall der Falsche. Mein Whisky kommt. Jetzt ist es besser. Casablanca feeling. Spiel es noch mal, Sam. Ich hätte es anders gemacht als Humphrey Bogart damals. Ich hätte ihn sein Lied spielen lassen. „As time goes by“. Wieder und wieder, das war Musik. „Kleine Tournee hier in der Bay-Area“ „Echt?“ „Wir sind ne Band aus Belgien“ „Und was spielt Band?“ „Jazz, mit viel Saxophon. Wussten Sie, dass das Saxophon die Erfindung eines Belgiers ist?“ „Nein“ „Adolphe Sax. Mein Großvater“ „Wow“ „Ja. Wir spielen mit seinen handgefertigten Instrumenten. Sind mehr wert als eine Stradivari“ „Cool“ „Letzte Woche in Los Angeles eine Platte ausgenommen. Musik zu einem Film“ „Was denn?“ „Liebesgeschichte der Nachkriegszeit, in der Jazz eine Rolle spielt. Film von Almodóvar. Die Band ist sogar ein paar mal zu sehen.“ „Wo denn?“ „Gefilmt in Paris und Berlin.“ „Ich war noch nie in Paris. Wann kommt er den raus, der Film?“ „Keine Ahnung, in einem halben Jahr vielleicht“ „So lange bist Du noch hier?“ „Nein, nur noch ein paar Tage, dann geht es zurück“ „Schade eigentlich“ „Naja“ „Was machst Du morgen?“ „Konzert in Monterey“ „Aufgeregt?“ „Klar, jedes Mal. Aber es legt sich dann schnell“ „Ist sicher spannend“ „Total. Ich liebe Musik, brauche das irgendwie.“ „Es gibt einen Jazzclub nicht weit von hier“ „Ja?“ „War aber noch nie drinn.“ „Ich auch nicht. Ob die dort auch Whisky haben?“ „Bestimmt!“ „Trinkst Du dann einen mit mir mit?“ „Ja“ „Ich dachte, Du magst Cocktails?“ „Die kenne ich alle schon, Whisky noch nicht“ „Und GODESS hat keine Angst vor dem Unbekannten?“ „Wer weiß?“


 

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Idole ohne Titelbilder



Schließlich bin ich Fotograf geworden. Ein recht guter sogar, wenn man der Bank glauben darf. Auch der Agent meint das. Meist zeigt er dann gönnerhaft auf eines meiner Titelfotos. Als hätte er die Bilder gemacht. „Idole“ war das letzte , im Spiegel, das jetzt bei ihm gerahmt im Büro hängt, neben den anderen. Zuhause über meinem Schreibtisch gibt es auch eins, aber ohne Titelseite. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich dieses Foto genommen. Es zeigt Peter. Aber den kennt kaum jemand. Außer mir. Mit ihm fing es an, mein Fotografieren. Dreißig Jahre ist es her. Die Bundesrepublik Deutschland kaufte meinen Onkel aus der ehemaligen DDR frei. Er hatte einen Ausreiseantrag gestellt, schrieb uns in den Westen, bat seine Schwester, meine Mutter, um Hilfe von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs. Er „verschwand“ nach ein paar Wochen, konnte erst wieder schreiben, als eine Menschenrechtsorganisation auf seinen „Fall“ aufmerksam wurde. Er hatte nicht viel in seinem Gepäck, als er in dem verdreckten Nachtzug aus Berlin/Ost in Bad Homburg ankam. Fast ein Jahr hatte es gedauert, bis es soweit war. Der Westen. Er war müde. Seine alte russische Kamera, ein Rollei Nachbau, wie er mir später erklärte, packte er als erstes aus und legte sie vorsichtig neben das provisorisches Bett. Er würde erst einmal bei uns unterkommen. Ob er sich an das neue Leben gewöhnt hatte, kann ich nicht sagen. Die Schwarzweiß-Fotos, die er hier vergrößerte, waren großformatig, kontrastreich und meist ohne Horizont. Seine alten Bilder, auch die aus Polen und Russland waren kleiner, wärmer, lebendiger. Er brachte mir alles bei. Das Fotografieren („schau einfach genau hin!“), die Filmentwicklung, das Vergrößern. Mit seiner russischen Kamera, die er mir schenkte, als er sich ein neues, westdeutsches Fabrikat kaufte, habe ich meine ersten Bilder gemacht, auch die ersten, die veröffentlicht wurden. Sicher hätte er sich darüber gefreut. Ob er heute wohl stolz auf mich wäre? Überlege oft, welche Bilder er wohl auswählen würde, diese Agenten haben vielleicht kommerzielles Gespür, aber keine Gefühl für die wirklich guten Aufnahmen. Er wollte nach West-Berlin, mit dem Zug. Und seiner neuen Fotoausrüstung. Auf einer Polizeistation meldete er, dass er verfolgt würde, bat um Hilfe. Zwei Stunden später war er tot, angeblich selbst vom Dach gesprungen. Vierzehnter Stock. Das Rückfahrticket hat man bei ihm gefunden, den Fotoapparat nicht. Beerdigung. Ein Loch in gefrorener Erde und Tränen, daran kann ich mich erinnern. Der Atem, den die wenigen Trauergäste gequält ausstießen, sah aus wie Weihrauch, der sich seinen Weg zu einem Gott suchte. Da stand eine Frau vor seinem Grab. Niemand kannte sie. Ihr war es sichtbar egal, was die anderen dachten, sie tat, was sonst keiner tat. Sie kniete kantig nieder. Keiner sprach sie an. Wäre ich ihr hinterhergelaufen und hätte „halt, warte einen Moment“ gerufen, laut, dann hätte ich von Peter erzählt. Aber sie war gegangen, bevor mir dieser Gedanke kam. Beerdigungen lähmen. Ich kann mich noch immer deutlich an ihren fremdar-tigen Blick erinnern, ihre großen Augen, die sich in Tränen aufzulösen drohten. Obwohl ich nur für einen Moment ihr porzellanhelles Gesicht sah, wusste ich, dass sie es auf dem Foto war, das sich in Peters bescheidenem Nachlass fand. Er hielt sie hochgehoben im Arm. Beide lächelten in die Kamera, als gäbe es keine. Verschwommene Landschaft mit geringer Tiefenschärfe. Der rechte Arm der Frau streckte sich weit nach oben, sie hielt ihre Hand, als wolle sie Peter vor dem Himmel schützen, um sie Momente später doch um seinen Hals zu legen, ihn an sich zu ziehen und zu küssen. Sicher ist die Aufnahme mit Selbstauslöser entstanden, irgendwo weit weg von allem, da, wo nur sie beide waren.


 

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