sturmfisch
 
Montag, 28. März 2005

Werkstatt

Idole ohne Titelbilder



Schließlich bin ich Fotograf geworden. Ein recht guter sogar, wenn man der Bank glauben darf. Auch der Agent meint das. Meist zeigt er dann gönnerhaft auf eines meiner Titelfotos. Als hätte er die Bilder gemacht. „Idole“ war das letzte , im Spiegel, das jetzt bei ihm gerahmt im Büro hängt, neben den anderen. Zuhause über meinem Schreibtisch gibt es auch eins, aber ohne Titelseite. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich dieses Foto genommen. Es zeigt Peter. Aber den kennt kaum jemand. Außer mir. Mit ihm fing es an, mein Fotografieren. Dreißig Jahre ist es her. Die Bundesrepublik Deutschland kaufte meinen Onkel aus der ehemaligen DDR frei. Er hatte einen Ausreiseantrag gestellt, schrieb uns in den Westen, bat seine Schwester, meine Mutter, um Hilfe von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs. Er „verschwand“ nach ein paar Wochen, konnte erst wieder schreiben, als eine Menschenrechtsorganisation auf seinen „Fall“ aufmerksam wurde. Er hatte nicht viel in seinem Gepäck, als er in dem verdreckten Nachtzug aus Berlin/Ost in Bad Homburg ankam. Fast ein Jahr hatte es gedauert, bis es soweit war. Der Westen. Er war müde. Seine alte russische Kamera, ein Rollei Nachbau, wie er mir später erklärte, packte er als erstes aus und legte sie vorsichtig neben das provisorisches Bett. Er würde erst einmal bei uns unterkommen. Ob er sich an das neue Leben gewöhnt hatte, kann ich nicht sagen. Die Schwarzweiß-Fotos, die er hier vergrößerte, waren großformatig, kontrastreich und meist ohne Horizont. Seine alten Bilder, auch die aus Polen und Russland waren kleiner, wärmer, lebendiger. Er brachte mir alles bei. Das Fotografieren („schau einfach genau hin!“), die Filmentwicklung, das Vergrößern. Mit seiner russischen Kamera, die er mir schenkte, als er sich ein neues, westdeutsches Fabrikat kaufte, habe ich meine ersten Bilder gemacht, auch die ersten, die veröffentlicht wurden. Sicher hätte er sich darüber gefreut. Ob er heute wohl stolz auf mich wäre? Überlege oft, welche Bilder er wohl auswählen würde, diese Agenten haben vielleicht kommerzielles Gespür, aber keine Gefühl für die wirklich guten Aufnahmen. Er wollte nach West-Berlin, mit dem Zug. Und seiner neuen Fotoausrüstung. Auf einer Polizeistation meldete er, dass er verfolgt würde, bat um Hilfe. Zwei Stunden später war er tot, angeblich selbst vom Dach gesprungen. Vierzehnter Stock. Das Rückfahrticket hat man bei ihm gefunden, den Fotoapparat nicht. Beerdigung. Ein Loch in gefrorener Erde und Tränen, daran kann ich mich erinnern. Der Atem, den die wenigen Trauergäste gequält ausstießen, sah aus wie Weihrauch, der sich seinen Weg zu einem Gott suchte. Da stand eine Frau vor seinem Grab. Niemand kannte sie. Ihr war es sichtbar egal, was die anderen dachten, sie tat, was sonst keiner tat. Sie kniete kantig nieder. Keiner sprach sie an. Wäre ich ihr hinterhergelaufen und hätte „halt, warte einen Moment“ gerufen, laut, dann hätte ich von Peter erzählt. Aber sie war gegangen, bevor mir dieser Gedanke kam. Beerdigungen lähmen. Ich kann mich noch immer deutlich an ihren fremdar-tigen Blick erinnern, ihre großen Augen, die sich in Tränen aufzulösen drohten. Obwohl ich nur für einen Moment ihr porzellanhelles Gesicht sah, wusste ich, dass sie es auf dem Foto war, das sich in Peters bescheidenem Nachlass fand. Er hielt sie hochgehoben im Arm. Beide lächelten in die Kamera, als gäbe es keine. Verschwommene Landschaft mit geringer Tiefenschärfe. Der rechte Arm der Frau streckte sich weit nach oben, sie hielt ihre Hand, als wolle sie Peter vor dem Himmel schützen, um sie Momente später doch um seinen Hals zu legen, ihn an sich zu ziehen und zu küssen. Sicher ist die Aufnahme mit Selbstauslöser entstanden, irgendwo weit weg von allem, da, wo nur sie beide waren.


 

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Werkstatt

Schwarz



„Zu spät“ dachte sie, „hätte ich bloß meine Schuhe ausgezogen, dann hätte ich abhauen können.“ Aber sie war zu müde zur Flucht, wollte nur noch eins: Barfuss. In Ruhe endlich wieder Boden unter sich spüren. Wortlos stieg sie weiter nach oben, drückte sie sich auf dem schmalen Treppenabsatz an ihm vorbei. Ihr Haar streifte die Mauer, in ihren Ohren rauschte es.

„Bon soir mademoiselle, comment allez vous ce soir? Avez vous passez un bon journee ...?“

„Ob er jemals begreift, dass ich kein Französisch spreche“ knurrte sie still in sich hinein, „nicht sprechen kann, nicht sprechen will und nicht sprechen werde.“ Dabei wühlte sie den mit einem Tigerzahn bestückten Schlüsselanhänger aus der Handtasche, schloss zweimal auf und gleitete lautlos in ihr Königinenreich. Das Flurlicht erweckte die erdigen Farben zum Leben, es roch nach Sandelholz und Limonen. „Hier habe ich jetzt endlich das sagen“ dachte sie bei sich, wie so oft, wenn sie erschöpft nach Hause kam, obwohl schon lange niemand mehr bei ihr war. Sie rückte das vergilbte Foto ihres Vaters gerade, das schief neben der Gardarobe hing. Irgendwie begrüßte er sie doch immer noch still jeden Abend. „Groß war Vater, und stolz. Aber wann war er je interessiert, mir zuzuhören“ fragte sie sich, als sie an früher dachte. Damals, als sie noch alle zusammen in der Rue Rivoli in Kinshasa lebten. Sie dachte an ihren ersten Mann. Er stand ihm in nichts nach, schwarz wie die Nacht war auch er. „Aber Ron war weiß“ lächelte sie innerlich, als sie an ihren zweiten Mann dachte. „Er sprach mit mir. Aber nicht in meiner Sprache. Und hörte mir auch nicht zu“ waren die Gedanken, die ihr Lächeln vertrieben. Lange hat es gedauert, bis sie sich von den singenden Klängen ihrer Heimat an Rons dunkel röchelndes Brüssler Niederländisch gewöhnt hatte. Noch mehr Zeit verstrich, bis sich ihr Gaumen endlich traute, diese Laute auch nachzuahmen. Ron lachte, sprach aber immer noch nicht mit ihr, selbst als sie von den schillernden Farben ihrer Heimat und dem Wundern der Regenzeit in seiner Sprache erzählen konnte. Niemand schien sich dafür zu interessieren, auch die Nachbarn in der Hoogestraat trauten sich nicht, sie anzusprechen. Selbst jetzt nicht, wo Ron schon Monate weg war und kein Mann sie mehr auf der Straße an sich drückte. „Meine Hautfarbe macht ihnen Angst“ dachte sie, „aber ich möchte doch auch nur reden, auch wenn meine Sprache schwarz ist. Vielleicht, ja vielleicht, wenn er anders wäre als Ron und die Männer vorher, würde ich ihm meine Sprache zeigen, mit den Fingern könnte er sie in meinen Haaren spüren, mit seinem Lippen auf meiner dunklen Haut lesen. Ja, er würde zuhören.

Sie schloss das Fenster, um die Kälte des Regens auszusperren, schob ihre Schuhe unter das Sofa und ließ sich hineinfallen. Barfuss fühlte sie sich besser, obwohl sie alleine in der Wohnung das Gefühl nicht los wurde, Schuhe zu tragen, die ihr zu klein waren.


 

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